Die Fotografie des Alltäglichen entsteht aus der Beobachtung von Situationen, die meist übersehen werden. Gewöhnliche Räume, vertraute Wege und kleine Routinen bilden ein Umfeld, in dem sich viele wiederkehrende Motive finden. Das Unspektakuläre wird zu einer eigenen Quelle visueller Aufmerksamkeit. Die Beschäftigung mit alltäglichen Motiven wird so zu einer Übung im genauen Hinsehen. Das Alltägliche bietet keine spektakulären Reize, aber es ermöglicht ein langsames, präzises Beobachten. Darin liegt sein besonderer Wert für die fotografische Praxis.
Im Klappentext des Buches Fussnoten von Andreas Staudinger (2019) wird dessen Text- und Foto-Projekt als eine Reihe von neun Erkundungstouren beschrieben, in denen „die Exotik des Naheliegenden“ untersucht wird. Auf der Suche nach dem Besonderen im scheinbar Unscheinbaren durchstreift der Autor eine „Landschaft ohne Eigenschaften“ und erkennt gerade in dieser Eigenschaftslosigkeit eine eigene Qualität. Jenseits touristischer Klischees entstehen subjektive Bilder von „Sehensunwürdigkeiten“, deren „Befragung stets ästhetischen, soziologischen oder politischen Mehrwert“ erbringen. Der Text schließt mit der Beobachtung, man könne „jeden Ort lesen wie ein reich bebildertes Buch“ (im Original in Kleinschreibung).
Die wiederholte Begegnung mit alltäglichen Szenen eröffnet eine besondere fotografische Möglichkeit. Treten ähnliche Situationen mehrfach auf, lassen sich feine Differenzen präziser wahrnehmen. Lichtverhältnisse, Witterung, Bewegungen oder Gebrauchsspuren verändern sich, während der Ort konstant bleibt. Durch wiederholte Aufnahmen – gegebenenfalls sogar vom identischen Standort aus – entsteht eine Serie. Für die fotografische Arbeit mit solchen Szenen haben sich bestimmte Vorgehensweisen bewährt. Serien machen Veränderungen sichtbar, die im einzelnen Bild kaum auffallen würden. Die Wahl eines festen Standpunktes oder einer konstanten Brennweite erleichtert vergleichende Beobachtungen. Zurückhaltung gegenüber Eingriffen in die Situation lässt den Eigencharakter des Motivs deutlicher hervortreten.
Unter den Begriff der Serie fällt ebenso die Zusammenstellung gleichartiger Motive, die an unterschiedlichen Orten aufgenommen wurden; hierfür hat sich auch die Bezeichnung „Reihe“ etabliert. Ein Beispiel aus der Stadtfotografie wäre eine Serie repräsentativer Hauseingänge in Gründerzeitvierteln verschiedener Großstädte. In der Landschaftsfotografie bieten Hochstände für Jäger eine vergleichbare Möglichkeit. In beiden Fällen ergibt sich eine Nähe zu den „Typologien“, bei denen „homogene, phänomenologisch identisch wirkende Elemente“ in einem Tableau angeordnet werden (Parak 2009: 83). Die Arbeiten von Bernd und Hilla Becher gelten hierfür als paradigmatisches Beispiel.
„Die Anordnung der Serie ist eines der Stilmittel, der sich (…) Fotografen bedienen, um zu einer komplexen und vielschichtigen Aussage über einen Aspekt der Welt zu kommen. Im Gegensatz zur Fotoreportage, die aus dem Nebeneinander visueller Superlative besteht, wird hier eine Dramaturgie des Alltäglichen entwickelt, die auch das scheinbar Nebensächliche zulässt und ihm Bedeutung zugesteht“ (Weski 2002: 11).
Typische Motive des Alltags liegen in Übergangsräumen wie Haltestellen, Eingängen, Gehwegen oder Treppen. Auch einfache Objekte, etwa abgestellte Fahrräder, Werkzeuge oder Abfallbehälter, zeigen soziale Spuren und Abläufe. Tageszeiten und atmosphärische Bedingungen verleihen diesen Motiven zusätzliche Struktur.
Für meine Art der Stadtfotografie haben mich besonders Arbeiten der „New Topographic“ beeinflusst. Als „Topografische Fotografie“ wird eine Richtung der Fotografie bezeichnet, die „an einer möglichst sachlichen Abbildung einer bestimmten Gegend interessiert ist. (…) Ihr bevorzugtes Motiv sind Orte, die weder den Vorstellungen einer attraktiven Stadt- noch einer schönen Naturlandschaft entsprechen: Brachen, Gewerbegebiete, Vorstadtsiedlungen. Solche Aufnahmen können der Analyse suburbaner Strukturen dienen, aber auch dazu, eine bestimmte Befindlichkeit zum Ausdruck zu bringen…“ (Holschbach 2008: 33).
Die ethische Dimension der Fotografie des Alltäglichen gewinnt insbesondere dort an Bedeutung, wo Menschen Teil des Motivs werden. Unauffälligkeit fungiert hier nicht nur als ästhetische Strategie, sondern als Voraussetzung respektvollen Handelns. Die Nähe, die aus der Beschäftigung mit vertrauten Räumen und wiederkehrenden Situationen entsteht, verlangt eine erhöhte Sensibilität für die Grenzen zwischen Beobachtung und Übergriff. Menschenbilder, die im Kontext alltäglicher Situationen entstehen, bewegen sich stets in einem Spannungsfeld zwischen Sichtbarmachung und Vereinnahmung. Eine zurückhaltende Bildgestaltung, der Verzicht auf spektakuläre Zuspitzungen und die Anerkennung der Eigenständigkeit der Dargestellten tragen dazu bei, diese Spannung produktiv zu halten. Fotografie des Alltäglichen ist damit auch eine Übung in Verantwortung: Sie erfordert Aufmerksamkeit nicht nur für das Sichtbare, sondern ebenso für die Bedingungen, unter denen Bilder entstehen.
Die Fotografie des Alltäglichen erweist sich damit weniger als Suche nach dem Besonderen denn als bewusste Haltung gegenüber der Welt. Sie setzt auf Wiederholung, Aufmerksamkeit und Zurückhaltung und verschiebt den fotografischen Blick von der Ausnahme zur Regel. Indem scheinbar unscheinbare Orte, Situationen und Objekte ernst genommen werden, entsteht eine Bildpraxis, die Veränderungen, Gebrauchsspuren und soziale Strukturen sichtbar macht, ohne sie zu dramatisieren. Das Alltägliche wird so nicht nur zum Motiv, sondern zum methodischen Prinzip einer Fotografie, die ihre Bedeutung aus der Dauer der Beobachtung und aus der Genauigkeit des Hinsehens gewinnt.
Literaturnachweise
Holschbach, Susanne: Thematische Offenheit - Konzeptionelle Strenge. Fotografie aus Leipzig seit den 1990er Jahren. In: Mit Abstand ganz nah. Fotografie aus Leipzig. Bielefeld/Leipzig: Kehrer.
Parak, Gisela (2009): The American Social Landscape. Dokumentarfotografie im Wandel des 20. Jahrhunderts. Trier: Wissenschaftlicher Verlag.
Staudinger, Andreas (2019): Fussnoten. Klagenfurt: Verlag Wieser.
Weski, Thomas (2002): Zeichensprache des Dokumentarischen. In: Landschaft. Fotografien von Robert Adams, Joachim Brohm, Laurenz Berges, Gerhard Fuchs und Simone Nieweg. Göttingen: Steidl, S. 10-19.