Friedrichstraßenpassage

„Jahrzehntelang war das Tacheles-Gelände ein Symbol der alternativen Kunstszene: Nach dem Fall der Mauer besetzten Künstlerinnen und Künstler die Ruine der einstigen Einkaufspassage. Unter der Ägide der neuen Nutzer entwickelte sich das marode Gebäude zu einem bedeutenden alternativen Kulturzentrum in Mitte, zu einem Symbol für die kreative Freiheit und den künstlerischen Aufbruch im wiedervereinigten Berlin. Heute steht das denkmalgeschützte Gebäude – das Überbleibsel der 1907/1908 errichteten Friedrichstraßenpassage – für die fortschreitende Gentrifizierung der Hauptstadt“ (Oliver Weinhold, Berliner Zeitung Nr. 260, 10.11.2025, S. 4).

Die Friedrichstraßenpassage wurde in den Jahren 1907 bis 1908 unter Leitung des Architekten Franz Ahrens errichtet und 1909 eröffnet — sie verband die Friedrichstraße mit der Oranienburger Straße und galt nach der Kaiserpassage als zweitgrößte Einkaufspassage Berlins. Das fünfgeschossige Gebäude aus Stahlbeton besaß eine Mittelhalle mit einer frühen Glaskuppel — eine jener architektonischen Innovationen der frühen Moderne. Zudem verfügte der Komplex über ein eigenes Rohrpostsystem.

Bereits 1908 musste die ursprüngliche Betreibergesellschaft Konkurs anmelden, woraufhin das Warenhaus der Kette Wertheim das Haus übernahm — blieb dort jedoch nur bis 1914. Ab 1928 nutzte der Elektrokonzern AEG das Gebäude als Ausstellungs- und Verkaufsort unter dem Namen „Haus der Technik“. Mit rund 10.500 m² Ausstellungsfläche war es Schauort für technische Innovationen und Produktpräsentationen.

In den 1930er Jahren wurde das Gebäude zunehmend von NS-Institutionen genutzt, darunter die Deutsche Arbeitsfront (DAF) und Ämter der Schutzstaffel (SS). Während des Kriegs wurden Dachlichter geschlossen, um französische Kriegsgefangene unterzubringen; der zweite Tiefkeller wurde geflutet und ist seither unter Wasser. Trotz Bombenschäden blieb das Gebäude teilweise nutzbar — nach Kriegsende jedoch weitgehend ohne langfristige Nutzungsperspektive.

1948 fiel der Komplex an den Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB). Verschiedene Nutzungen entstanden — Händler, Handwerk, Büroräume, sogar eine Fachschule. Doch über die Jahrzehnte verfiel das Gebäude zunehmend, da eine grundlegende Sanierung unterblieb. In den 1970er und 1980er Jahren führten Statikgutachten zu dem Beschluss, die Passage abzureißen — 1980 begann der Teilabriss, 1982 wurde die Glaskuppel gesprengt. Der verbleibende Rest war dem Verfall preisgegeben.

Knapp vor der geplanten Sprengung besetzten im Februar 1990 Künstler*innen den verbliebenen Gebäudeteil — das spätere Kunsthaus Tacheles. In Verhandlungen mit der Baudirektion gelang es, den Abriss zumindest vorläufig aufzuschieben. Ende 1991/Anfang 1992 wurde das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt. Fortan verwandelte die Initiative die Ruine in einen bunten Ort der Kunst, der Frieden mit Abrissplänen und die Reste des vergessen geglaubten Hauses in einen pulsierenden Raum urbaner Kreativität rückverwandelte.

Das Tacheles entwickelte sich zu einem Zentrum für zeitgenössische Kunst, Ateliers, Ausstellungen, Theater, Musik, Tanz, Performance und lebendige Subkultur. Erste gastronomische und kulturelle Anlaufstellen wie das Café Zapata entstanden. Im Gebäude befanden sich bis zu 30 Ateliers, Ausstellungsflächen, Veranstaltungsräume, ein Kino (High End 54), die Panorama-Bar, eine große Bühne im „Goldenen Saal“ — ein zentraler Ort für alternative Theater- und Tanzproduktionen der unabhängigen Szene in Berlin. Zudem entstand ein Skulpturenpark im Hof mit Metallarbeiten, eine Werkstatt für Bildhauer, und der Hof selbst wurde Treffpunkt für unterschiedlichste Menschen — Kunstinteressierte, Touristen, Lebenskünstler.

Finanzielle Schwierigkeiten (Mietvertrag lief 2008 aus; Nachverhandlungen scheiterten) führten zum Rückzug der kommerziellen Betreiber. Der Trägerverein meldete Insolvenz an. Im Zuge einer Verwertung durch Gläubiger und Investoren wurde das Gelände zunehmend zum Spekulationsobjekt: Eine Zwangsversteigerung wurde vorbereitet, Mietverhandlungen scheiterten, das Gebäude drohte endgültig zu verschwinden. Am 4. September 2012 wurde das Tacheles endgültig geräumt — das mehr als zwanzig Jahre bestehende Kunstzentrum endete mit einem symbolischen Protest.

Im Jahr 2014 ging das Gelände in den Besitz der US-amerikanischen Vermögensverwaltung Perella Weinberg Real Estate (PWR) über. Zwischen 2019 und 2023 erfolgte eine umfassende Kernsanierung des historischen Flügels und der Neubau von elf Gebäuden — geplant vom Architekturbüro Herzog & de Meuron. In diesen wurden Wohnungen, Büro- und Einzelhandelsflächen geschaffen. Im September 2023 eröffnete das Fotografie­museum Fotografiska Berlin als Teil des neuen Quartiers im ehemaligen Tacheles-Komplex. Trotz gegenteiliger Aussagen des Projektentwicklers, wonach 90 Prozent der 176 Eigentumswohnungen verkauft seien, sind augenscheinlich zahlreiche Wohnungen und Gewerbeflächen unbewohnt oder unvermietet. Auch im Erdgeschoss bleiben viele Läden dunkel. Die hohen Mieten mit Quadratmeterpreisen von bis zu 15.000 Euro und die geringe Laufkundschaft schrecken potenzielle Interessenten ab, Das neue Stadtquartier “Am Tacheles” wird flankiert von modernen Bauten und steht — so Kritiker — exemplarisch für die Gentrifizierung der Stadt: ein ehemaliger Ort alternativer Kultur ist gewichen dem kommerziellen Wohnraum.

Quellen: Wikipedia und Berliner Zeitung, Nr. 260, 10.11.2025, S. 4.

Baustelle Tacheles-Gelände 2019
Reinhard Mokros: Berlin, Baustelle Tacheles Gelände 2019
Reinhard Mokros: Berlin, Baustelle Tacheles Gelände 2019
Reinhard Mokros: Berlin, Baustelle Tacheles Gelände 2019
Reinhard Mokros: Berlin, Baustelle Tacheles Gelände 2019
Reinhard Mokros: Berlin, Baustelle Tacheles Gelände 2019
Reinhard Mokros: Berlin, Baustelle Tacheles Gelände 2019
Reinhard Mokros: Berlin, Baustelle Tacheles Gelände 2019
Reinhard Mokros: Berlin, Baustelle Tacheles Gelände 2019
Reinhard Mokros: Berlin, Baustelle Tacheles Gelände 2019
Reinhard Mokros: Berlin, Baustelle Tacheles Gelände 2019
Reinhard Mokros: Berlin, Baustelle Tacheles Gelände 2019
Reinhard Mokros: Berlin, Baustelle Tacheles Gelände 2019
Tacheles Gebäude heute (Fotografiska)
Reinhard Mokros: Berlin, Tacheles Gebäude 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Tacheles Gebäude 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Tacheles Gebäude 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Tacheles Gebäude 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Tacheles Gebäude 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Tacheles Gebäude 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Tacheles Gebäude 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Tacheles Gebäude 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Tacheles Gebäude 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Tacheles Gebäude 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Tacheles Gebäude 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Tacheles Gebäude 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Tacheles Gebäude 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Tacheles Gebäude 2023
Friedrichstraßenpassage 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Friedrichstraßenpassage 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Friedrichstraßenpassage 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Friedrichstraßenpassage 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Friedrichstraßenpassage 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Friedrichstraßenpassage 2023
Reinhard Mokros: Berlin, Friedrichstraßenpassage 2023