Drei Ausstellungen zur Street Photography und ein persönlicher Blick auf das Genre
Im ersten Halbjahr 2025 bot sich die Gelegenheit, drei Ausstellungen zu besuchen, die unterschiedliche Facetten der Street Photography beleuchteten. Diese Erfahrungen nehme ich zum Anlass, das Thema Street Photography kritisch zu reflektieren.
SONNTAGS-BLOG
Reinhard Mokros
Sonntags-Blog vom 10. August 2025 (überarbeitete Fassung vom 12. August 2025)
Der folgende Beitrag verbindet einen Rückblick auf drei Fotoausstellungen mit Überlegungen zum Selbstverständnis der Street Photography und einer Reflexion darüber, in welcher Weise sich mein fotografischer Schwerpunkt der Stadtfotografie von diesen Positionen unterscheidet.
1 Magie der Straße
Im Rahmen des Jubiläumsjahres 100 Jahre Leica I: Zeugin eines Jahrhunderts präsentierte das Ernst Leitz Museum in Wetzlar vom 21. Februar bis 9. Juni 2025 die Ausstellung Die Magie der Straße: Meisterwerke der Street Photography aus dem Leica Archiv, kuratiert von Karin Rehn‑Kaufmann und Inas Fayed. Die Schau versammelte über 100 fotografische Werke aus dem Leica‑Archiv, die einen repräsentativen Querschnitt durch die Geschichte und Vielfalt der Straßenfotografie boten. [1]
Namhafte Fotografinnen und Fotografen waren mit ihren Werken vertreten, darunter Henri Cartier‑Bresson, René Burri, Elliott Erwitt, Alexander Rodtschenko, Martine Franck, Joel Meyerowitz und Gianni Berengo Gardin. Die Ausstellung legte zudem einen Schwerpunkt auf zeitgenössische Positionen der Street Photography, vertreten durch Fotografinnen und Fotografen wie Julia Baier, Fred Mortagne und Matt Stuart. [1] Diese Vielfalt an Werken bot einen umfassenden Einblick in die Entwicklung und die unterschiedlichen Facetten der Street Photography.
Ein zentrales Anliegen der Ausstellung war es, die historische Bedeutung der Leica-Kamera herauszustellen: Ihr kompaktes Format und die Fähigkeit, flüchtige Szenen spontan festzuhalten, prägten das Genre entscheidend.
2 Bruce Gilden – A Closer Look
Die Ausstellung Bruce Gilden – A Closer Look, konzipiert von Isabel Siben in enger Zusammenarbeit mit dem Künstler, präsentierte vom 8. Mai bis 7. September 2025 im neuen Kunstfoyer am Thierschplatz 6 in München etwa 50 Schwarz-Weiß-Straßenfotografien (seit 1969 entstanden, u. a. New York, Haiti, Tokyo, London, Paris) sowie 22 monumentale Porträts der Reihe Faces, meist in Farbe, die mit knapp zwei Metern Höhe im Raum wirkten.
Bruce Gilden (*1946, Brooklyn / seit 1998 Magnum-Fotograf) richtet sein Augenmerk auf jene Menschen, die häufig übersehen und marginalisiert werden – „Underdogs“, „Misfits“ und „Unsichtbare“. Seine Technik, Blitzlicht aus nächster Nähe einzusetzen, erzeugt Bilder von ungefilterter Direktheit, die körperliche Narben, Deformationen oder Spuren sozialen Rands in hoher Detailtreue abbilden. Wie Gilden selbst formulierte: „Die Kamera ist keine Waffe“, vielmehr will er Begegnung schaffen, keine Demütigung. [2]
Im Schwarz-Weiß-Teil verweben sich dokumentarische Straßenszenen – von Coney Island, New York bis Haiti und Tokyo – mit dem mythischen Element subtiler Straßenpoesie. Die Faces-Serie hingegen konfrontiert die Ausstellungsbesucher mit monumentalen Close‑ups: Gesichter, die z. B. Narben, Hämatome oder ungeschminkte Authentizität zeigen. Diese Bilder richten sich – häufig von unten fotografiert oder großes Bildformat nutzend – direkt an die Betrachtenden, provozieren ein Auf- und Abtasten im räumlichen und metaphorischen Sinne. [2]
Ein tragendes Motiv der Ausstellung war die Umkehrung von Machtverhältnissen: Gilden rückt jene ins Zentrum, die man sonst kaum sieht, und gibt ihnen Raum – oft auf Augenhöhe, manchmal im wörtlichen Sinne über den Köpfen der Betrachter. [2]
3 „Street Photography“ im Museum Ludwig
Die Ausstellung Street Photography. Lee Friedlander, Joseph Rodríguez, Garry Winogrand wurde im Museum Ludwig in den neu eingerichteten Photography Rooms vom 3. Mai bis zum 12. Oktober 2025 präsentiert. [3]
Das Thema der Ausstellung nimmt einen aktuellen Trend der Fotografie auf. Ein konsistentes kuratorisches Konzept ist jedoch nicht erkennbar. Die Auswahl der Fotografien erscheint eher beliebig, als habe primär der Wunsch im Vordergrund gestanden, einzelne Werke aus dem eigenen Sammlungsbestand zu präsentieren.
Gezeigt werden Fotografien von Lee Friedlander und Garry Winogrand, deren Werkkomplexe im Museum Ludwig in einer Breite vertreten sind, wie sie in Deutschland nur selten anzutreffen ist. Ein wesentlicher Teil der ausgestellten Arbeiten stammt aus der umfangreichen Schenkung von Maria Morris Hambourg und Howard Stein, die dem Museum 2022 überlassen wurde. [3]
Von beiden Fotografen sind rund 20 Aufnahmen zu sehen – darunter ikonische Werke aus den 1960er‑ und 1970er‑Jahren, die die vielschichtige formale Experimentierfreude dieser Künstler zeigen.
Auch Joseph Rodríguez ist mit etwa 20 Bildern, vorwiegend aus seiner „Taxi“-Serie, vertreten. Sie markieren einen dokumentierenden Blick auf marginalisierte Lebenswelten. Seine Arbeiten waren häufig durch erklärende Kommentare ergänzt, die Kontext und Biografie der Porträtierten reflektierten. [3]
Positiv zu vermerken ist die räumliche Neuverortung der Fotografie im Museum Ludwig: Erstmals sind fotografische Arbeiten im ersten Obergeschoss zu sehen – ein Signal, dass der Fotografie im Haus künftig mehr Sichtbarkeit und Platz eingeräumt wird. Diese Entwicklung ist ausdrücklich zu begrüßen.
Insgesamt bleibt der Ausstellungsbesuch jedoch ernüchternd. Das große Thema „Street Photography“ wird nicht erschlossen, sondern nur behauptet. Eine vertiefende Auseinandersetzung mit den fotografischen Strategien, den sozialen Räumen oder dem urbanen Blick der jeweiligen Fotografen fehlt. So bleibt der Eindruck einer verpassten Chance.
4 Street Photography: Popularität, Missverständnisse und eigene Wege
Street Photography bezeichnet ein Genre der Fotografie, das den öffentlichen Raum und das alltägliche Leben in Städten in den Blick nimmt. Seit den 1930er-Jahren haben Fotografinnen und Fotografen wie Henri Cartier-Bresson, Helen Levitt oder später Garry Winogrand und Lee Friedlander die Straßenfotografie zu einer eigenständigen Form visueller Erkundung entwickelt, ohne den Begriff zur Kennzeichnung ihrer Fotografie zu verwenden.
Im Zentrum steht das ungeplante, oft beiläufige Geschehen – festgehalten in Momenten, die durch Nähe, Spontaneität und das Gespür für urbane Situationen geprägt sind. Dabei ist Street Photography stets auch ein Seismograf gesellschaftlicher Wirklichkeit: Sie zeigt das Verhältnis von Individuum und öffentlichem Raum, von sozialer Ordnung und deren Brüchen, von Inszenierung und Zufall.
In den vergangenen zehn Jahren hat die Street Photography innerhalb der Amateur- und semiprofessionellen Fotografie erheblich an Bedeutung gewonnen. Maßgeblich dazu beigetragen haben große Ausstellungen renommierter Fotografinnen und Fotografen, wie die drei hier genannten oder die Ausstellung mit Fotos von Henri Cartier-Bresson im Bucerius Kunstforum Hamburg sowie zahlreiche Beiträge in Fotofachzeitschriften.
Wolfgang Zurborn bezeichnet in einem Interview mit Theresa Brüheim die Street Photography als „eine Art Königsdisziplin innerhalb der Fotografie“ (Zurborn 2022: 24). In der Zeitschrift PhotoKlassik wird sie sogar als „das faszinierendste Genre in der Fotografie“ beschrieben, da „sie Spannung, Abenteuer und eine intensive Auseinandersetzung mit der Psychologie des Menschen bietet“ (Slunjski 2021: 45).
Es überrascht daher kaum, dass viele Fotografinnen und Fotografen von der Street Photography angezogen werden. In Fotozeitschriften und bei Workshops erhalten sie neben technischen Hinweisen und Empfehlungen zur geeigneten Ausrüstung mitunter auch Leitlinien wie „Ethische Regeln der Street Photography“ sowie Anregungen zur Annäherung an das Motiv. So heißt es etwa: „Suchen Sie interessante Menschen auf der Straße und begegnen Sie ihnen wertschätzend“ (Slunjski 2021: 47). Darüber hinaus wird dazu ermuntert, „Themen wie Einstellung, Ethik, Moral, Achtsamkeit oder auch Meditation maßgeblich in die Fotografie einzubeziehen“ (Trampedach 2024. Hervorhebung im Original).
Dabei tritt häufig die grundlegende Frage nach Intention und Zweck der Street Photography in den Hintergrund. Geht es primär um die Produktion ästhetisch ansprechender Bilder, die in sozialen Medien wie Instagram hohe Reichweiten erzielen und Chancen auf Wettbewerbserfolge bieten, oder steht hinter jedem Foto eine bewusst formulierte Bildaussage mit inhaltlichem Bezug zum Thema „Straße“?
Beispiele für eine auf visuelle Effekte ausgerichtete Bildgestaltung finden sich in kontraststarken Schwarz-Weiß-Aufnahmen, häufig im Gegenlicht, die lediglich die Silhouetten von Personen erkennen lassen. In solchen Bildern steht weniger die Abbildung konkreter Situationen im Vordergrund als vielmehr grafische Effekte. Gleichwohl werden sie häufig unter dem Begriff Street Photography subsumiert, mitunter ergänzt durch den Zusatz „abstrakt“.
Wer sich eingehend mit den Arbeiten jener Fotografinnen und Fotografen befasst, die heute unter dem Begriff Street Photography gefasst werden, erkennt, dass ihr Ziel nicht das spektakuläre Einzelbild war, sondern das Festhalten von Eindrücken während des Flanierens durch die Straßen der Stadt. Dies erforderte Aufmerksamkeit und schnelle Reaktionsfähigkeit im Erfassen von Situationen. Dass sich eine Fotografin oder ein Fotograf dabei wie ein gewöhnlicher Passant verhält, dient der unauffälligen Beobachtung – nicht der Achtsamkeit, der Wahrung der Menschenwürde oder moralischen Erwägungen.
5 Fazit
Die Auseinandersetzung mit Street Photography – angeregt durch aktuelle Ausstellungen und Beiträge in Fachzeitschriften – hat mir vor allem eines verdeutlicht: Dieses Genre ist mit hohen Erwartungen und idealisierten Vorstellungen aufgeladen. Diskussionen über Ausrüstung, ethische Fragen oder stilistische Ratschläge greifen oft zu kurz, solange die grundlegende Intention nicht geklärt ist.
Für meine eigene fotografische Praxis habe ich daraus die Erkenntnis gewonnen, dass Stadtfotografie und Street Photography nur begrenzt miteinander vergleichbar sind. Während Street Photography häufig das spontane, unmittelbare Erfassen menschlicher Situationen in den Vordergrund stellt, zielt meine Arbeit auf eine umfassendere Dokumentation urbaner Räume. Menschen sind darin Teil des städtischen Lebens und oft unverzichtbar, doch sie stehen nicht allein im Fokus.
Die Beschäftigung mit der Street Photography war damit weniger eine Anleitung für meine eigene Arbeit, sondern vielmehr ein Prozess der Selbstverortung: Sie hat mir geholfen, meine fotografischen Ziele klarer zu definieren.
Internetquellen
[1] https://leicawelt.com/ausstellung/die-magie-der-straße-meisterwerke-der-street-photography-aus-dem-leica-archiv (zuletzt abgerufen am 06.08.2025).
[2] https://www.versicherungskammer-kulturstiftung.de/kunstfoyer/ausstellungen/bruce-gilden-br-a-closer-look/ (zuletzt abgerufen am 06.08.2025).
[3] https://www.museum-ludwig.de/de/ausstellungen/street-photography-lee-friedlander-joseph-rodriguez-garry-winogrand (zuletzt abgerufen am 06.08.2025).
[4] https://www.fotowissen.eu/kamera-einstellungen-street-photography-projekt-teil-7/ (06.08.2025).
Literaturverzeichnis
Slunjski, Ivan (2021): Der Einstieg in die analoge Streetfotografie. In: PhotoKlassik, H. III., S. 45-48.
Zurborn, Wolfgang (2022): „Ich lebe mit der Fotografie, ich existiere“. In: Politik & Kultur, H. 3/2022, S. 24. Online: https://www.kulturrat.de/themen/fotografie/ich-lebe-mit-der-fotografie-ich-existiere/?utm_source=chatgpt.com (06.08.2025).